Gipfelgedanken

Grenzen

Es ist viel von Grenzen die Rede. Nicht nur anlässlich coronakrisenbedingt geschlossener Schlagbäume, die das sommerliche Reisegeschehen durcheinander zu bringen drohen. Sondern auch mit Blick auf andere Krisen der Gegenwart: so z.B. in der Kontroverse um Grenzsicherung im Zusammenhang der sogenannten „Flüchtlingskrise“ oder in der „Klimakrise“, wo es um die Begrenzung des durchschnittlichen Temperaturanstiegs auf der Erde geht. Dann gibt es natürlich auch Diskussionsdauerbrenner wie den Streit darüber, ob das vorgeblich alternativlose Weltfunktionsmodell unseres globalisierten Zeitalters die Grenzen der Lebensdienlichkeit nicht längst schon weit überschritten hat.

Die Grenze ist ein eigenwilliges Phänomen. Sie trennt, ist zugleich aber auch die Verbindung des Getrennten. Sie schließt ein aber auch aus. Und sie kann passierbar sein oder/und als Barriere wirken. Im Alltag sind Grenzen allgegenwärtig: Territorien werden abgegrenzt, Menschen werden ausgegrenzt, Probleme eingegrenzt oder Handlungsspielräume schlicht begrenzt. Es gibt im Kopf gezogene, es gibt sprachlich gesetzte und räumlich markierte Grenzen; wir kennen Grenzwerte und Wertgrenzen. Man kann an seine Grenzen gehen, jemandem Grenzen setzen, die durch ihn gesetzten Grenzen respektieren oder aber ignorieren, was eventuell zu einer folgenschweren Grenzverletzung führt. Kurz: Grenzen durchdringen die Welt in vielfältiger Weise, sind in unsere Lebensführung mannigfaltig eingeschrieben und lenken diese mit. Wie wir mit Grenzsetzungen, -verschiebungen oder -aufhebungen umgehen, wo wir sinnvollerweise Grenzenlosigkeit fordern, wann uns Grenzen dabei helfen, mit Freiheit verantwortlich umzugehen, wann sie diese Freiheit übermäßig einschränken: das alles ist, wie im echten Gelände, individuell wie auch gesellschaftlich immer wieder neu zu vermessen und zu kartieren.

Das Grenz(en)bewusstsein verdient daher über Krisenbewältigungsanlässe hinaus Aufmerksamkeit. Dann geraten auch andere Dimensionen der Grenze in den Blick, so etwa das erfreute Erstaunen darüber, wie viele Menschen für den Dienst an der Allgemeinheit an ihre Grenzen zu gehen bereit sind. Oder dass auch die Expertise der Experten ihre Grenzen hat, und die Forderung nach Gewissheit mithin zu viel gewollt ist.

Wie wäre es, wenn wir alle künftig auch Reisen der anderen Art unternehmen – solche nämlich, die uns die vielfältigen Grenzlinien in unserer Gesellschaft erkunden lassen? Und bei Bedarf trennende zu verbindenden Grenzen machen oder grenzenlos gewordene Anspruchshaltungen im Dienst einer lebenswerten Zukunft angemessen begrenzen?

„Wer-hätte-gedacht-dass…“-Befunde haben ja seit März Hochkonjunktur. Vielleicht könnten wir dann bei der Heimkehr von diesen Reisen immer wieder sagen: „Wer hätte gedacht, dass unser Lebensland so anders aussehen kann?“

Jens Badura /  Juli 2020

Jens Badura ist habilitierter Philosoph, lehrt Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste, ist Senior Fellow am »Institut Kulturen der Alpen« der Uni Luzern in Altorf/CH und Teil des Wissenschaftsnetzwerks am Komeptenzzentrum „Kultur- und Kreativwirtschaft“ des Bundes in Berlin. Zusammen mit Andreas und Matthias Bunsen betreibt er den think & do-tank »creativeALPS«. Jens lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe in Marktschellenberg/Berchtesgaden.

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