Gipfelgedanken

Aufbruch in die Unmittelbarkeit

Wer digital reist, bleibt daheim. Auch wenn die normalisierte Abstandsalltäglichkeit im vergangenen Jahr bemerkenswerte technische Errungenschaften für das bildschirmbasierte Miteinander hervorgebracht hat: Das wirklich Wirkliche blieb in der digitalen Nähe eigenwillig fern.

Jetzt aber scheint ein Aufbruch in die Unmittelbarkeit wieder möglich zu sein. Es kann wieder auf die reale Reise gehen, die Welt wird riechen, schmecken – berührbar sein. Und das, was in den vergangenen Monaten aus der zunehmend nostalgisch gefärbten Erinnerung geschöpft werden musste, kann nun wieder gegenwärtig erlebt werden. In der Nostalgie wird eine meist schöngefärbte Vergangenheit zum Maßstab für das, was man sich für das Heute und Morgen wünscht. Je mehr das Heute verunsichert und das Morgen in seiner Ungewissheit bedrohlich wirkt, desto stärker wird die Nostalgie zu einem wirkmächtigen Motiv – bis zu dem Punkt, dass man sich eigentlich gar nichts mehr anderes vorstellen kann als das, woran man sich in gefälliger Ausschmückung erinnert: Die gute alte Zeit. Im gegenwärtig gängigen Vokabular gesagt: Nostalgie kann zum Lockdown der Imagination führen. Sie kann jenes Sehvermögen beeinträchtigen, das wir benötigen, um Neues zu entdecken, und unsere Weltsicht verändern, statt nur Bekanntes wiederzuerkennen und Gewohntes zu wiederholen.

Wenn jetzt das Verkehrsmittel der Welterfahrung nicht mehr allein die nostalgisch motorisierte Sehnsucht, sondern auch wieder die mechanisch bewerkstelligte Reise durch reale Gegenwartslandschaften ist, bekommt die Vorstellungskraft frische Nahrung. „Endlich wieder!“ lautet das Motto dieser Tage.

In der Pandemiezeit war der mit Selbstverständlichkeiten gepflasterte Weg durch das Gewohnte blockiert. Der Umgang mit und das Umgehen von dieser Blockade hat neue Pfade durchs Dasein entstehen lassen: ungewöhnliche Pfade in ungewohntem Terrain, auf denen das individuelle und gemeinschaftliche Leben geführt werden musste. Dieses Terrain war nicht immer gefällig, zuweilen aber doch auch unerwartet inspirierend und attraktiv.

Jetzt, wo der bekannte Standardweg wieder frei wird, fragt sich, wie weit und ausschließlich man ihn eigentlich wirklich endlich wieder gehen will – oder nicht doch, zumindest in manchen Fällen, die neuen Pfade des Andersmöglichen mit unerwarteten Ausblicken auf ungewohnte Alltäglichkeiten vielversprechender findet: endlich wieder staunen, statt endlich wieder „routinieren“.

Die anstehenden Reisen könnten den Anlass bieten, eben diese Frage zu stellen – gerade dann, wenn sie „endlich wieder“ in Richtung vertrauter Orte gehen. Denn dabei wird sich erfahren lassen, ob uns das im vergangenen Jahr erworbene Vermögen zum Begehen neuer Pfade dazu verleiten kann, die Welt auch dort neu zu entdecken, wo sie vermeintlich bekannt ist – sei es auf den Bergen, in den Tälern oder Ebenen der neuen alten Welt.

Jens Badura / Juni 2021

Jens Badura ist habilitierter Philosoph, lehrt Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste, ist Senior Fellow am »Institut Kulturen der Alpen« der Uni Luzern in Altorf/CH und Teil des Wissenschaftsnetzwerks am Komeptenzzentrum „Kultur- und Kreativwirtschaft“ des Bundes in Berlin. Zusammen mit Andreas und Matthias Bunsen betreibt er den think & do-tank »creativeALPS«. Jens lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe in Marktschellenberg/Berchtesgaden.

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