Berchtesgadener War
Gipfelgedanken

Besinnlichkeit

Zum Jahresende steht vielen der Sinn nach Besinnlichkeit. Dieses alljährlich wiederkehrende Bedürfnis hat heuer allerdings eine besondere Qualität. Zunächst einmal ist es durch den Wunsch getragen, dass in der hocherregten Coronazeit Momente der Einkehr ersehnt werden – Momente, in denen das laustarke Rauschen allgegenwärtiger Krisenkommunikation zumindest für einige Momente verstummen möge.

Außerdem fungiert der Besinnlichkeitsbedarf auch als Ausdruck eines proaktiven Optimismus gemäß der Formel „Krise als Chance“: die im Spätdezember in „normalen“ Jahren vermeintlich unabwendbar aufbrausende Hektik rund um die Logistik des Schenkens und Lichterglanzgestimmtseins sei 2020 für einmal per Lockdown heruntergefahren – und mit ihr der Mißbrauch der Weihnachtsbotschaft als Schmiermittel eines gigantischen Konsumspektakels gestoppt. Auf diese Weise könnte endlich wieder ein wirklich „besinnliches“ Weihnachtsfest möglich sein, weil die christliche Botschaft als Quellcode der Idee des Beschenkens wieder erfahrbar werde.

Ob diese beiden Trostargumente die Frustration über den Ausfall des de facto alternativlosen Zentralanlasses für familiäre Verbundenheitserfahrungen zu lindern vermögen, darf wohl bezweifelt werden. Mit vielen, die man gerne in der Nähe hätte, wird ein Zusammenkommen nicht stattfinden – und mit den ebenso vielen täglichen Toten werden Zeitgenossen, die nicht blind und taub sind, in diesem Jahr wohl auch keine fröhliche Weihnacht „feiern“ können.

Die Rede von Besinnlichkeit ist aber dennoch durchaus angezeigt – wenn auch in anderer Hinsicht. Dann nämlich, wenn es um die Frage geht, wie die Gesellschaft nach den Wirren der jüngeren Vergangenheit wieder zur Besinnung kommen und mit Besonnenheit darüber verhandeln kann, wie mit den aktuellen Herausforderungen zukunftsorientiert umzugehen sein wird.

Oft ist in dem Zusammenhang der Appell zu hören, dass es keine Rückkehr zur „alten Normalität“ geben solle, da sich diese für Mensch und Planet erwiesenermaßen als nicht förderlich erwiesen habe. Das in dem Zusammenhang derzeit populärste, aber beileibe nicht einzig wichtige Thema ist dabei die Klimakrise. Und ja: In vielen Bereichen erweist sich die etablierte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung als hochproblematisch und nachgerade lebensfeindlich. Insofern ist es durchaus angebracht, der Wiederherstellung des „Vor-Corona“-Zustands kritisch entgegenzutreten.

Doch hier sollte besagte Besinnung auf Besonnenheit wieder ins Spiel kommen. Vieles, das zur „alten“ Normalität gehörte, ist durchaus Wert, schnellstmöglich wieder normal zu werden. Die Aussicht, dass ein Leben hinter Masken oder die Wahrnehmung des Anderen als potentielle Bedrohung zur neuen Normalität wird, ist keine gute Aussicht. Und die immer selbstverständlichere Regulierung der Lebensführung entlang eines generalisierten Präventionsimperativs, gemäß dem die Pflicht zur Risikovermeidung nicht mehr hinterfragt werden kann, ist ebenso wenig eine die Lebensqualität fördernde Perspektive. Denn: Ein Leben, in dem Spontaneität, jedes aus Experimentierlust eingegangene Wagnis und jede reizvolle Unvernunft durch ein zum Gesetz erhobenes Ideal der Vermeidung jeglicher Gefahren verurteilt und sanktioniert wird, ist nicht lebenswert.

Jens Badura / Dezember 2020

Jens Badura ist habilitierter Philosoph, lehrt Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste, ist Senior Fellow am »Institut Kulturen der Alpen« der Uni Luzern in Altorf/CH und Teil des Wissenschaftsnetzwerks am Komeptenzzentrum „Kultur- und Kreativwirtschaft“ des Bundes in Berlin. Zusammen mit Andreas und Matthias Bunsen betreibt er den think & do-tank »creativeALPS«. Jens lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe in Marktschellenberg/Berchtesgaden.

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