Gipfelgedanken

Zielvergessenheit

Das Wandern ist nicht nur des Müllers Lust. Pilger und die verschiedenen welt- und neulandinteressierten Gehreisenden, die sich „auf den Weg machten“ (so die ursprüngliche Bedeutung von „Reisen“) oder die vielen Menschen, die sich heute in wachsender Zahl per pedes durch Natur und Kulturen bewegen, haben eines gemeinsam: alle waren oder sind Wandernde.

Was aber macht Wandern so reizvoll, was motiviert Menschen dazu, sich ohne zwingenden Grund „gemächlichen Schrittes längere Strecken zu Fuß zu bewegen“ – wie es die klassische Definition des Wanderns besagt?

Das Wort „Wandern“ ist begriffsverwandt mit dem Wort „Wandeln“ – und letzteres verwenden wir in zwei Bedeutungen: als „Umherwandeln“ und als „Verwandeln“. Was das Wandern so erfahrungsreichhaltig macht, ist genau dieses Zusammenspiel: Neue Perspektiven, neue Erfahrungen und neue Gedanken stellen sich ein, weil der Körper im Gehen mitdenkt und das Denken dabei mitgeht. Nicht umsonst wird eine der großen philosophischen Traditionen – die des Aristoteles – nach der „Wandelhalle“ (griechisch Peripatos) benannt: Für Peripatetiker verwandelten sich beim Wandeln bekannte Gedankengänge zu neuen Ideen; eine Erfahrung, die man leicht selbst machen kann, sofern man sich auf die beim Wandern möglichen Wandlungen wirklich einlässt.

Beim Wandern ist das Ziel nicht, möglichst schnell an einem bestimmten Ort anzukommen. Dieser Zielort ist nur in dem Sinne bestimmend, als dass er den Aufbruch anstiftet und dem Gehen eine Richtung gibt. Ist man aber einmal losgegangen, wird etwas anderes wichtig: nämlich wandernd bei sich anzukommen.

Wandern ist daher nicht ziellos, wohl aber im Unterwegs-Sein zeitweilig zielvergessen.

Sich die Freiheit zum Wandern zu nehmen, heißt also, sich zu erlauben, die Aufmerksamkeit nicht auf ein Ziel, sondern in den Moment zu richten. Eine in zielgetriebenen Zeiten nicht selbstverständliche Angelegenheit. Aber eine, die auf gutem Weg zur Besinnung führt, dazu, dass die Welt alle Sinne ansprechen kann und wir durch diese die Fülle erfahren, die die Welt uns bietet: beim Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen…und natürlich auch beim Sehen, nicht zuletzt dem Sehen von Wegweisern, die dafür sorgen, dass die Zielvergessenheit nicht zur Orientierungslosigkeit wird.

Jens Badura / August 2020

Jens Badura ist habilitierter Philosoph, lehrt Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule der Künste, ist Senior Fellow am »Institut Kulturen der Alpen« der Uni Luzern in Altorf/CH und Teil des Wissenschaftsnetzwerks am Komeptenzzentrum „Kultur- und Kreativwirtschaft“ des Bundes in Berlin. Zusammen mit Andreas und Matthias Bunsen betreibt er den think & do-tank »creativeALPS«. Jens lebt mit seiner Familie und einer Herde Alpiner Steinschafe in Marktschellenberg/Berchtesgaden.

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