
Frühherbstliche Wanderung zur Ragertalm im Klausbachtal
Vorwurfsvoll schaut mich meine Tochter von der Seite an. Es ist mittags und wir sind heute direkt von Arbeit und Kindergarten aufgebrochen. Wir sitzen in der warmen Frühherbstsonne auf der Holzbank vor dem urigen Klausbachhaus, in dem eine der größten Informationsstellen des Nationalpark Berchtesgadens untergebracht ist. Die blühenden Geranien leuchten in sattem Rot aus Töpfen und Balkonkästen heraus und bringen das denkmalgeschützte Bauernhaus so richtig zur Geltung. Während wir unsere Brotzeit essen, beobachten wir eine Gruppe Freiweide-Kälber, die sich vor dem Zaun auf der Hirschbichlstraße tummeln und die Wanderer, die fröhlich vorbeiziehen.
Vor dem Gatter wird es etwas aufgeregt: Der Fahrer eines ALMErlebnisBUS bedient die Schranke. Das rote Fahrzeug bahnt sich Zentimeter für Zentimeter langsam und vorsichtig seinen Weg durch die Ansammlung von Kühen und Menschen. „Wir könnten auch mit dem Bus da hinter fahren?“ fragt mich meine 5-Jährige mit bedrohlichem Unterton. Ja, der ALMErlebnisBUS fährt vom Hintersee mitten durch den Nationalpark Berchtesgaden über verschiedene Almen und den Hirschbichlpass auf fast 1.200 Metern Höhe bis hinüber ins benachbarte Österreich. Aber ich kann meinen Nachwuchs davon überzeugen, dass eine Wanderung zu Fuß auch sehr reizvoll ist – bei all dem, was es unterwegs zu entdecken gibt.

Mit der Butterbreze in der Hand gehen wir zu den handgemachten Holzstühlen im Garten des Klausbachhauses. Von hier haben wir einen direkten Blick über den bereits leicht herbstlich verfärbten Wald hinauf zur Halsgrube, ein einige hundert Höhenmeter schräg oberhalb der Infostelle gelegenes Gebiet. Angestrengt halten wir nach Bavaria und Wally Ausschau, den beiden Bartgeier-Mädchen, die vor kurzem im Nationalpark Berchtesgaden ausgewildert worden sind und auf Grund der dortigen Thermikverhältnisse besonders gern über der Halsgrube kreisen. Leider haben wir heute kein Glück.
Mit den tollen Entdeckungen unterwegs, habe ich Recht behalten: Mindestens eine halbe Stunde sind wir allein mit der Beobachtung des „gemeinen Fettkrauts“ beschäftigt. Die Pflanze, die mit ihren Blättern eine am Boden liegende Rosette bildet, ist Fleischfressend. Die Oberfläche der Blätter sind mit klebrigen Fangsekret bedeckt. Damit fängt die Pflanze kleine Insekten, wie Ameisen und Mücken und verdaut sie mit Hilfe von Enzymen. Wie gruslig-spannend wäre es, eine Beuteaktion zu beobachten. Doch auch hier warten wir zwar geduldig, aber umsonst – kein auch noch so kleines Insekt verirrt sich in die Fänge der Pflanze.
Weiter des Weges entdecken wir reifen Brombeeren und unter den Bäumen am Wegrand wachsen schon die unterschiedlichsten Pilze. Die Finger meines Sprösslings wandern immer wieder begehrlich in Richtung Pflanzen und Blumen. Aber im letzten Moment kann sie sich doch immer beherrschen – sie weiß ganz genau, dass hier unzählige streng geschützte Pflanzen wachsen und dass die Blüten stehen bleiben sollen, um Insekten gerade im Herbst noch mit Nahrung zu versorgen.
Wir nehmen den Weg am Klausbach entlang und machen immer wieder halt, um unsere Namen in den feinen Sand am Ufer zu kritzeln oder sogenannte „Stoamand‘l“ zu bauen.
Holzbank vor dem urigen Klausbachhaus Der ALMErlebnisBUS fährt bis nach Österreich Handgemachte Holzstühle im Garten des Klausbachhauses Das „gemeine Fettkraut“ ist eine fleischfressende Pflanze Liegestühle aus Holz im Klausbachtal Die Almkatze mit Mädchen Die Nationalpark-Hängebrücke im Klausbachtal
Und schon kommt links die Brücke über den Bach und wir wandern tapfer die letzten steilen Meter zur Ragertalm hinauf. Die Belohnung ist offensichtlich: Eine Kräuterlimo, ein Brunntrog mit frischem, klaren Wasser und ein junges, rotes Kätzchen für das Kind, eine Tasse guter Kaffee und der gigantische Blick auf die rauen Felstürme der Ramsauer Dolomiten und ins Ramsauer Tal hinaus für die Mama – besser geht’s kaum.
Als dann auch noch ein blondes, gleichaltriges Mädchen mit ihren Eltern ankommt, kommt meine Tochter – vor Begeisterung schon mit roten Wangen – aus dem Versteckspielen mit den neuen tierischen und menschlichen Freunden gar nicht mehr heraus.
Der Abschied fällt schwer, aber wir haben uns noch ein weiteres Ziel vorgenommen: Von der Abzweigung unten am Bach sind es nur noch rund 20 Minuten bis zur Hängebrücke. Die erstreckt sich galant geschwungen über den Klausbach und misst 55 aufregende Meter. Bei der Brücke angekommen, rennt meine Tochter ausgelassen und furchtlos immer wieder mit Schwung von einer zur anderen Seite – das leichte Wackeln und Schwingen stört sie überhaupt nicht. Der Blick hinauf zum Kleinen Mühlsturzhorn in der klaren, reinen Gebirgsluft vor einem knallblauen Himmel und dem gewaltigen Felsabbruch ist verstörend schön.
Voll von schönen Naturerlebnissen im frühherbstlichen Klausbachtal marschieren wir jetzt zügig zurück zum Ausgangspunkt. Die Kühe stehen nicht mehr am Tor – sie haben sich sicher schon ein bequemes Nachtquartier gesucht und auch wir freuen uns auf eine Dusche und unser Bett zu Hause.

